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Kriminalkommissarin Marita Segin: „Die Kollegen in der LKA-CybercrimeDienststelle nennen mich Frau Hinweisportal.“
Frau Hinweisportal
Anschläge, Amokläufe, Ausschreitungen: Früher konnten sich Täter in der Masse verstecken. Heute spielen private Handyfotos und -videos bei der Fahndung eine immer größere Rolle.
Streife-Redaktion

Der 15. Oktober 2018 ist ein Montag. Kurz vor 13 Uhr herrscht Hochbetrieb im McDonalds am Kölner Hauptbahnhof. Die Angestellten haben mit Pommes und Burgern alle Hände voll zu tun. Deshalb bemerkt wohl auch niemand den – wie sich später herausstellt – 55-jährigen Mann, der hinter einem Abräumwagen hockt und Benzin ausschüttet. Wenig später wirft er einen Molotow-Cocktail. Panik! Menschen flüchten. Ein Mädchen (14) rutscht in der Benzinlache aus, erleidet schlimme Verbrennungen.

Jedes Jahr erlebt die Polizei in Nordrhein-Westfalen gefährliche Situationen, die auf dem Hinweisportal landen. Hier einige Beispiele aus 2022: Da waren im September die Ausschreitungen beim Conference League Cup des 1. FC Köln in Nizza, nachdem Fans den Sturz eines Zuschauers von der Tribüne bejubelt hatten. Noch am selben Abend richtete die Polizei Köln eine „Besondere Aufbauorganisation“ ein und bat das Publikum um Videoaufnahmen und Fotos. Im August gab es eine Messerattacke im Wuppertaler Haus der Integration, bei der ein Mann (20) auf eine Mitarbeiterin (24) einstach. Im Mai bat die Mordkommission die Duisburger Bevölkerung um Hilfe, nachdem es auf dem Hamborner Altmarkt eine Schießerei zwischen der Rockergruppe Hells Angels und einem türkisch-arabischen Clan gegeben hatte. 19 Schüsse, vier Verletzte. Zeugen konnten über das „nrw.hinweisportal.de“ Selfies und Video-Clips bis maximal zwei Gigabyte hochladen, die während oder nach der Tat entstanden waren.

Wo sich viele Menschen versammeln, konnten früher Täter leicht im Schutz der Masse verschwinden. In Zeiten von Instagram, Twitter und Co. sind die Chancen groß, dass sie auf privaten Videos auftauchen, die vor Ort aufgenommen wurden. Weil sie bei der Aufklärung helfen könnten, wählen Einsatzleiter nach gewalttätigen Auseinandersetzungen immer häufiger die Telefonnummer 0211-939-4123 der Cybercrime-Dienststelle 41.2 beim LKA, um eine Internet-Hotline zu ordern.

Am anderen Ende nimmt dann Kriminalkommissarin Marita Segin (34) den Hörer ab. Die Kollegen im Landeskriminalamt an der Völklinger Straße in Düsseldorf nennen sie auch „Frau Hinweisportal“. Seit 2018 hat Segin bereits 33 Portale freigeschaltet. Zeugen schickten mehr als 35 Gigabyte Datenmaterial. Der Anschlag im Kölner Hauptbahnhof vor fünf Jahren war einer der ersten Lagen im Hinweisportal.

Wie bei nahezu allen Großlagen war auch die Situation in Köln zunächst unübersichtlich: Wer war der Brandstifter? Was wollte er mit dem Anschlag erreichen? Drohten weitere Attentate? Sechs Monate zuvor hatte ein islamistischer Attentäter in Paris mehrere Menschen mit einem Messer attackiert. Deshalb wurde auch in Köln zunächst ein Terror-Hintergrund vermutet. Um möglichst schnell möglichst viel zu erfahren, baten die Ermittler alle Pendler und Reisenden um Hilfe, die sich mittags in der Nähe des Fastfood-Restaurants aufgehalten und Fotos gemacht hatten: Vielleicht war auf irgendeinem Bild zufällig der Brandstifter zu sehen? Vielleicht hatte er sich mit anderen Menschen unterhalten – möglichen Komplizen?

„Ein Verbrechen kennt keine Uhrzeit“, sagt Segin. Deshalb können Einsatzleiter die Hotline Tag und Nacht schalten lassen, nach 16 Uhr über den Lagedienst beim LKA. Das geht ganz unbürokratisch. Segin benötigt nur ein kurzes Antragsformular. Dann stellt sie unter dem Link nrw.hinweisportal.de innerhalb von Minuten ein Formular online. Zeugen müssen dann nur noch auf den Button „Ereignis“ klicken und zum richtigen Schlagwort scrollen. In diesem Fall lautete es: „Brandanschlag im Kölner Hauptbahnhof“. Klick. Eine übersichtliche Seite öffnet sich, in ein rechteckiges Fenster können Zeugen per Drag & Drop Foto- und Videodateien ziehen. Das Datenmaterial wird nach der (Zwischen-) Speicherung beim BKA auf den Servern des LKA gesichert und durch die Polizeidienststellen bearbeitet und ausgewertet.

"Im Bereich der organisierten Kriminalität wollen Zeugen anonym bleiben." Marita Segin

Ein Wettlauf gegen die Zeit. „Das Interesse und die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung lassen in der Regel wenige Tage nach einem Anschlag nach“, beobachtet Segin. Und: „Im Bereich der organisierten Kriminalität wollen Zeugen anonym bleiben.“ Deshalb können auf der Website zwar Name, Adresse und Telefonnummer angegeben werden, aber das ist keine Pflicht.

Die Idee für das Portal ist vor zehn Jahren nach dem Anschlag auf den Boston-Marathon entstanden. Damals wurden Hunderte Menschen durch Nägel und Splitter verletzt, als zwei Brüder Sprengsätze zündeten. Sie wurden gefasst, weil Zuschauer die Szene ungeachtet der Gefahr mit ihren Smartphones gefilmt hatten. „Besonders für die jüngere Generation gehört es heute dazu, das Leben über das Netz zu teilen“, sagt Segin. Die Bostoner Kollegen richteten damals ein Hinweisportal ein, um die Datenmengen zu bündeln.

Auch in Deutschland stellten sich Ermittler die Frage, wie sie mit einer ähnlichen Situation umgehen würden. Das Bundeskriminalamt schuf die technische Infrastruktur, auf die seit 2018 auch die Länder zugreifen können.

Stunden nach dem Attentat in Köln haben Spezialeinheiten zwar den Täter in einer Apotheke überwältigt, wo er sich verschanzt und Geiseln genommen hatte. Doch die Hintergründe der Tat blieben unklar.

Bleibt das Problem: Wie erfährt die Öffentlichkeit, dass sie helfen kann und soll? „Durch gute Pressearbeit“, sagt Ermittlerin Segin. In Köln haben Zeitungen sowie Radio- und Fernsehsender immer wieder auf das Hinweisportal aufmerksam gemacht. Gleichzeitig gab es auch Posts in sämtlichen Social-Media-Kanälen.

Bereits einen Tag nach der Tat konnte die Polizei mit verwackelten Bildern den Tathergang rekonstruieren. Weil der Täter in der Apotheke seinen Ausweis verloren hatte, erhielten die Ermittler schließlich auch seinen Namen: Mohammed R., ein mutmaßlich schwer traumatisierter, tabletten- und alkoholabhängiger Flüchtling aus Syrien, der in Neu-Ehrenfeld lebte. Eine Verbindung zum IS bestand offenbar nicht. Das Verfahren wurde 2020 vorläufig eingestellt, weil der Mann wegen schwerer Verletzungen bis heute nicht vernehmungsfähig ist.

Seitdem hat „Frau Hinweisportal“ schon über 30 neue Lagen geschaltet: Zuletzt im Fall des 16-jährigen Mouhamed D., der im August erschossen wurde. Das Polizeipräsidium Recklinghausen suchte Zeugen. Auch im Kampf gegen Geldautomaten-Sprenger setzt die Polizei in NRW auf Augenzeugen-Videos. Seit Mai ist ein Hinweis-Link geschaltet. Und wie immer hofft Marita Segin, dass irgendein Zeuge zufällig nachts zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist.

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